Die Entstehung der Spielgemeinschaft
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Niederelsungen ein überdurchschnittlich hohes politisches Konfliktpotential und mit der NS-Machtergreifung 1933 entstand zwischen vielen Dorfbewohnern eine tiefe Kluft.
Diese in jeder Hinsicht schlechte Ausgangssituation wurde durch den Krieg und seine Folgen noch verschlimmert – eine Vielzahl von Fremden kam ins Dorf: die ausländischen Kriegsgefangenen, die auf dem Land die fehlenden Arbeitskräfte ersetzen sollten, die ausgebombten Städter, allen voran die Kasseläner nach dem verheerenden Bombenangriff 1943. Gegen Ende des Krieges kamen dann immer mehr Flüchtlinge und schließlich die vertriebenen Sudetendeutschen hinzu.
Verbunden mit den alten Spannungen unter den Dorfbewohnern herrschte somit eine schlechte Stimmung im übervollen Niederelsungen.
Zu einer allgemeinen Angst vor Fremden kamen Argwohn und Vorurteil. Doch auch viele der Zugezogenen konnten sich von Neid und Eifersucht nicht ganz freimachen.
Es kam soweit, dass niemand durch das Dorf gehen konnte, ohne hinter den Fenstern missmutige Blicke ahnen zu müssen. Dass dieser Zustand nicht tragbar war, empfanden viele. Vor allem aber der hochgeschätzte und beliebte Dorflehrer Erich Oberlist.
Möglichkeit zur Besserung sah er darin, das ganze Dorf für ein Unternehmen zu begeistern und im gemeinsamen Wirken zusammenzubringen. Der theaterbegeisterte Oberlist, der schon seit Jahren mit Schülern aber auch mit Erwachsenen Stücke in Sälen der Gastwirtschaften aufgeführt hatte, regte also im Jahre 1947 an, das Volksstück „Die Glocken der Heimat“ im Freien und mit einer größeren Zahl von Mitwirkenden aufzuführen. Erich Oberlist war es auch, der als Bühne die Lichtung auf dem Knechtenberg vorschlug. Aber noch vor der Premiere verstarb plötzlich der erst 54-jährige Oberlist im März 1948. Doch er hatte eine Theaterbegeisterung entfacht, die nicht mehr erlosch. Mit den Herren Philipp Gante, Richard Turba und Wilhelm Flamme in vorderster Reihe wurde nach der erfolgreichen Aufführung von den „Glocken der Heimat“ beschlossen, einen deutschen Klassiker im großen Stil auf die Bühne zu bringen, „Wilhelm Tell“ von Friedrich von Schiller.
Die Bereitschaft, vor oder hinter den Kulissen mitzuwirken, war nicht nur groß, sie zog sich auch durch alle Fraktionen des Dorfes. Bühnenbild, Kostüme und Requisiten sowie Werbung und das Herrichten der Bühnenanlage wurden in Eigeninitiative geleistet und in Eigenregie verantwortet.
Doch dann stellte sich heraus, dass sich die eifrigen Akteure mit der eigenhändigen Inszenierung übernommen hatten:
14 Tage vor der Premiere war das Stück weit entfernt von Aufführungsreife und man suchte dringend nach einem Profi. Fachleute von außerhalb warfen bereits nach einer Probe das Handtuch, und man sah die Premiere in ernster Gefahr. Da wandte man sich an den Kasseler Schulmeister Axel Herwig, der damals in Bründersen lebte. Der mit viel musischem Talent gesegnete Herwig wurde vom Holzhacken weggeholt, kam mitsamt Familie nach Niederelsungen und vollbrachte in nur zehn Tagen „das Wunder“, die Niederelsunger zu solch einem Einsatz zu motivieren, dass der Teil nicht nur rechtzeitig fertig, sondern auch ein großer Erfolg wurde. Seit dem ist in den folgenden 50 Jahren die Theaterbegeisterung in Niederelsungen nie mehr versiegt.
Doch der größte Erfolg des Teils von 1950 war die gelungene Vereinigung eines im Jahr zuvor noch tief gespaltenen Dorfes. Erich Oberlists Wunsch war in Erfüllung gegangen:
der Rütli-Schwur aus dem Tell –
„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen noch Gefahr“
– wurde von den Niederelsungern beherzigt und in die Tat umgesetzt.
Aus einem zerstrittenen Dorf wurde eine Gemeinschaft und – das spielende Dorf.